Das Tiefland by Lahiri Jhumpa

Das Tiefland by Lahiri Jhumpa

Autor:Lahiri, Jhumpa [Lahiri, Jhumpa]
Die sprache: deu
Format: epub
ISBN: 978-3-644-04301-5
Herausgeber: Rowohlt E-Book
veröffentlicht: 2014-09-03T04:00:00+00:00


Fünf

1

Mit jedem Tag wird es weniger: Das Wasser, das durch das Terrassengeländer zu sehen ist, sinkt immer weiter. Bijoli schaut zu, wie die beiden Teiche vor dem Haus und das Tiefland dahinter zugemüllt werden. Alte Kleider, Lumpen, Zeitungen. Leere Mother-Dairy-Packungen. Horlicks-Gläser, Bournvita- und Talkumpuderdosen. Lila Folie von Cadbury-Schokolade. Zerbrochene Tonschalen, in denen früher am Straßenrand Tee und süßer Joghurt verkauft wurden.

Der Müll bildet einen immer dicker werdenden Wall um den Wasserrand. Von ferne weißlich, von nahem bunt. Auch Bijolis eigener Abfall ist dort gelandet: Verpackungen von Keksen und Butterwürfeln. Noch eine plattgedrückte Boroline-Tube. Die spröden Haarbüschel, die ihr jetzt ausfallen, aus den Zähnen ihres Kamms gezogen.

Die Menschen haben schon immer Abfälle in diese Gewässer geworfen. Doch jetzt ist die Anhäufung gewollt. Ein verbotener Brauch, der in ganz Kalkutta praktiziert wird. Bauunternehmer verfüllen Teiche und Reisfelder, damit das Sumpfland der Stadt fest wird, damit neue Viertel errichtet, neue Wohnhäuser gebaut werden können. Neue Generationen heranwachsen können.

Im Norden, in Bidhannagar, war das in großem Maßstab geschehen. Sie hatte in der Zeitung gelesen, dass die holländischen Ingenieure Rohre gelegt hatten, um Schlamm vom Hooghly heranzuschaffen, die Seen aufzufüllen, Wasser in Land zu verwandeln. Dann hatte man dort eine am Reißbrett geplante Stadt errichtet, Salt Lake.

Vor langer Zeit, als sie nach Tollygunge gekommen waren, war das Wasser sauber gewesen. An heißen Tagen hatten sich Subhash und Udayan in den Teichen abgekühlt. Arme Leute hatten darin gebadet. Nach der Regenzeit bot die überschwemmte Niederung mit den vielen Watvögeln einen schönen Anblick, und das Wasser war so klar, dass sich das Mondlicht darin spiegelte.

Von dem Wasser ist nicht mehr als ein grünes Loch in der Mitte geblieben, ein stumpfes Grün, das Bijoli an Militärfahrzeuge erinnert. An Wintertagen, wenn die Sonne herunterbrennt, wenn der größte Teil der Niederung wieder zu Matsch geworden ist, sieht sie aus manchen Pfützen das Wasser vor ihren Augen verdunsten, wie Dampf vom Boden aufsteigen. Trotz des Mülls wächst die zäh verwurzelte Wasserhyazinthe weiter. Die Bauunternehmer, die dieses Land haben wollen, müssen sie verbrennen, um sie auszurotten, oder mit Maschinen herausreißen.

Zu einer bestimmten Stunde steht sie von ihrem Stuhl auf. Sie geht in den Hof hinunter und pflückt ein paar Ringelblumen und Jasmin, umschließt die Blumen mit der Hand. In diesem Winter stehen die Dahlien ihres Mannes noch in voller Blüte, Leute spähen über die Mauer und bewundern sie.

Sie geht an den Teichen vorbei zum Rand der Niederung. Ihr Gang hat sich verändert. Sie kann ihre Bewegungen nicht mehr genügend koordinieren, um einen Fuß direkt vor den anderen zu setzen. Stattdessen schiebt sie den Körper, immer eine Schulter voraus, seitlich dahin und zieht die Füße nach.

Jener Abend liegt jetzt so lange zurück, dass man sich schon Geschichten darüber erzählt. Die Kinder aus der Nachbarschaft, die nach Udayans Tod geboren wurden, verstummen, wenn sie Bijoli mit den Blumen und dem kleinen Messinggefäß sehen.

Sie wäscht die Gedenktafel ab, wechselt die Blumen aus, nimmt die vertrockneten vom Vortag weg. Im vergangenen Oktober jährte es sich zum zwölften Mal. Sie steckt die Hand in eine Pfütze und besprengt die Blumen mit dem Wasser an ihren Fingern, um die Blüten über Nacht feucht zu halten.



Download



Haftungsausschluss:
Diese Site speichert keine Dateien auf ihrem Server. Wir indizieren und verlinken nur                                                  Inhalte von anderen Websites zur Verfügung gestellt. Wenden Sie sich an die Inhaltsanbieter, um etwaige urheberrechtlich geschützte Inhalte zu entfernen, und senden Sie uns eine E-Mail. Wir werden die entsprechenden Links oder Inhalte umgehend entfernen.